Der Fellhaufen bebt. Wird zum langsam schlagenden Herz. Dann zum Tier. Dann zum Menschen. Dem Steppenwolf.
„Evolution!“, antwortet die Theaterpädagogin Carmen Donet lächelnd im Nachgespräch auf die Frage eines Schülers bezüglich des Prologs.
„Wichtig ist hier zu verstehen, dass es sich um eine Interpretation des Steppenwolfes handelt, also nicht um eine Nacherzählung“, äußert sich Julian W. Koenig alias Steppenwolf und Solo-Schauspieler über das Stück. Und Tatsache: Wer erwartet hat, dass das Stück exakt dem roten Faden des Werks folgt, wurde von einer exklusiven und nahegehenden Interpretation überrascht.
Beim Bühnenraum handelt es sich um ein steril-weißes Dreieck, dessen aufgestellte Seitenwände später Spiegel offenbaren, wenn der Steppenwolf das Magische Theater entdeckt. Nicht zuletzt sollte die hohe Kunstfertigkeit des gesamten Arrangements erwähnt werden, denn bei der Inszenierung wurden mannigfach Details einbezogen. Vom explizit ausgewählten Kunstleder des Bühnenraums (Botschaft hier: humane Kunstfertigkeit vs. Natur) sowie Ensembles aus Azalee, Fernseher und Lampe aufseiten des menschlichen Daseins bis hin zu Fellen und einem ausgestopften Wolf auf tierischer Seite. Und genau dort liegt auch die Botschaft: Sämtliche Accessoires, die der Schauspieler gebraucht, zeugen von Hesses Idee der gespaltenen Identität des Menschen. Oder anders: Alle Gegenstände polarisieren entweder die tierische oder die menschliche Hälfte des mindestens zwiegespaltenen Steppenwolfes Harry Haller. Hesses Gedanken hierzu sind äußerst komplex und philosophisch, man könnte sie in etwa so formulieren: Der Dualismus des inneren Geschehens des Steppenwolfes herrscht in jeder Bewegung, Tätigkeit und jedem Wort vor, ein Leitfaden der gesamten Inszenierung. Sei es das Zwiegespaltensein zwischen der animalischen, triebhaften und der menschlichen Seite Hallers oder die der Kunst und des Lebens. Sehnsucht ist das Hauptmotiv, charakterisiert den Steppenwolf, der bereits zu Anfang der Handlung verzweifelt mit Suizidgedanken ringt – öfter kämpft Julian Koenig mit einem altmodischen Rasiermesser auf der Bühne. Des Nachts streift der Suchende durch Kneipen, man beachte den Wolf auf der Weinflasche, tagsüber wechselt er zwischen Bewunderung und Verachtung bürgerlichen Lebens.
Haller strebt im „Steppenwolf“ nach einer Lösung seiner Lebenskrise, was Koenig auf der Bühne durch emotionale Hochleistung – unermüdlich sich verändernde Stimmungen und wechselnde Figuren – charakterisiert. Lebensprobleme? Ein bis heute aktuelles Dilemma, Zeitcharakteristik, besonders nach historischen Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg: Suche nach dem einheitlichen Selbst. Doch die Totalität der Persönlichkeit gibt es schlichtweg nicht, der Mensch besteht vielmehr aus komplexen, gegensätzlichen Seelenteilen. Dies ist nicht nur Hesses Sichtweise, sondern auch Lösung des Zentralkonfliktes. Verfasst im sogenannten „Traktat vom Steppenwolf“, auf das Haller bald stößt, in dem diese Botschaft nach und nach entfaltet wird. Nicht umsonst heißt es auch „Zugang nur für Verrückte“, wenn Haller das Magische Theater entdeckt, auf der Bühne sämtliche Spiegel enthüllt werden und den Schauspieler aus allerlei Perspektiven widerspiegeln. Nur für Verrückte. Damit meint Hesse den „Suchenden“, also nicht „jedermann“, nur den, der nicht am richtigen Platz ist, von Sehnsucht gequält, der die Vielfältigkeit seines Individuums im Magischen Theater entdeckt, die andere Wirklichkeit, nach der der Steppenwolf sich sehnt, ohne es zu wissen. „Verrückte“. In Hesses Augen demnach die vielfältig Individuellen, die nicht nach Materialismus streben. Also äußerst aktuell. Harry Haller entdeckt sein Ich im Magischen Theater, alle Facetten seiner Seele. Die Botschaft, die er lernen soll: Lachen. Lachen über sich selbst.
Julian W. Koenig ist allerdings nicht der einzige Schauspieler auf der Bühne, aber gleichzeitig doch auch: Er handelt allein, doch durch Projektionen an die Leinwand oder den Fernseher treten nach und nach (allerdings nicht alle) Charaktere des Werkes auf. Der Witz dabei: Alle werden von Koenig selbst gespielt. Im übertragenen Sinne handelt also Koenig alias Harry Haller nur mit sich selbst und erlebt Liebe, Freundschaft und intime Momente mit Figuren wie Hermine, Maria oder Pablo. Er entdeckt sein vielfältiges Ich. Auch stellen alle Figuren Spiegel und Gegensätze Hallers dar, besitzen Eigenschaften, die seine jeweiligen Seelenteile nicht besitzen. Humor steht hierbei im Mittelpunkt.
Die Inszenierung des Stückes ist sehr gut gelungen! Durch die äußerst nahe, intime Spielatmosphäre und dem vertrauten Umfeld wird ein neuer Blickwinkel auf die Welt ermöglicht, jegliche Abgründe der Fantasie werden ausgeleuchtet. Daher ist das Stück fast jedem Schüler nahe gegangen, unter anderem auch, weil Hesses Werk an sich unvermeidlich zu Selbstidentifikation und -reflektion führt. (Text: Lena von Neukirch, Fotos: argusdesign.de; es handelte sich um eine geschlossene, nicht öffentliche Aufführung)